Was ist eine “intime” Szene?

Worauf sollte ich als Arbeitgeber achten?

Wie arbeite ich mit einem Intimacy Coordinator zusammen?

Tipps und Empfehlungen für Produktionsfirmen

Foto: “Das Privileg” (Netflix, 2021)

 FAQ

  • Als “intim” gelten folgende Szeneninhalte:

    1) Körperliche Berührungen intimer oder sexueller Art, darunter:

    • Küsse auf den Mund (mit oder ohne Zungenkontakt)

    • Küsse auf den Körper

    • “Making out” (Formen des intensiven küssens/berührens, Petting; “knutschen”, “rummachen”)

    • Berührung sensibler Körperstellen wie: Brust, Genitalien, sowie jedweder Körperteil den der Darsteller als für sich sensibel einstuft.

    2) Grade von Nacktheit:

    • Entkleiden bis zur Unterwäsche/Badekleidung

    • Oberkörper-Nacktheit

    • Unterkörper-Nacktheit

    • Ganzkörper-Nacktheit komplett/ Vorder-/Rückseite (inklusive/exklusive vom Darsteller benannte Körperareale)

    • Implizite Nacktheit: die Kamera erzeugt den Eindruck, daß die Figur nackt ist, während der Darsteller jedoch an Brust und/oder Unterkörper abgedeckt ist

    3) Simulierte intime oder sexuelle Handlungen, darunter:

    • Simulierter Sex/Geschlechtsverkehr

    • simuliertes (impliziertes) Küssen

    • Simulierte körperliche Berührung intimer oder sexueller Natur (z.B. Masturbation, manuelle oder orale genitale Stimulation)

    4) Darstellung sexualisierter Gewalt

    5) Weitere sensible Inhalte intimer Natur (“hyper-exponierende” Inhalte):

    • Geburt

    • Fehlgeburt

    • Abtreibung

    • Leibesvisitation

    • erotischer Tanz

    • sonstige Szenen intimer Natur die der Darsteller als exponierend oder sensible für sich empfindet und für die er sich Unterstützung durch einen Intimacy Coordinator wünscht.

  • Nacktheit wird definiert als die Körperbereiche, die durch Badekleidung/Unterwäsche bedeckt sind.

    Für Männer und männlich gelesene Körper: Speedo-Badehose/Unterhose

    Für Frauen und weiblich gelesene Körper: Bikini oder Unterhose mit blickdichtem BH.

  • Wir empfehlen, intime Szenen frühzeitig und für alle Beteiligten transparent in den Produktionsprozess zu integrieren. Einen “Kompaktguide” für Produktionsfirmen finden Sie untenan Zu den wichtigsten Punkten gehört u.a.:

    • intime Szenen im Drehbuch identifizieren und eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen

    • Entsprechende Maßnahmen für die einzelnen Gewerke zu treffen

    • Darsteller rechtzeitig und schon vor dem Casting vollumfänglich über die bereits feststehenden sowie die zu erwartenden intimen Inhalte zu briefen

    • Intime Szenen und diesbezügliche Vereinbarungen in den Darstellerverträgen abzubilden (Nacktklauseln + Nudity Rider/Szenenvereinbarungen)

    • Rechtzeitig einen Intimacy Coordinator in den Produktionsprozess einzubinden.

    • Ausreichende Probenzeit für intime Szenen zu disponieren.

  • Consent bedeutet auf Deutsch “Einverständnis”, “Einwilligung”. Es bezieht sich auf die freiwillige, aufrichtige Entscheidung eines Menschen, in etwas einzuwilligen - und diese Einwilligung jederzeit widerrufen zu können.

    Consent kommt aus der englischsprachigen Sexualaufklärung (u.a. Planned Parenthood) und wird mit dem Acronym “FRIES” definiert als:

    • Freely given // freiwillig

    • Reversible // reversibel

    • Informed // informiert

    • Enthusiastic // enthusiastisch

    • Specific // spezifisch

    Der Consent-Begriff findet bei der Arbeit mit intimen Szenen Anwendung, da hier der Darsteller seine Einwilligung gibt, Szenen mit Nacktheit und/oder simulierten intimen/sexuellen Handlungen darzustellen. Da es Hochrisiko-Szenen sind in denen der intime Körper des Darstellers im Spiel ist, muss es dem Darsteller ermöglicht werden, Consent zu geben. Dieser Consent muss ohne Zwänge von außen, sowie informiert, spezifisch, freiwillig und enthusiastisch (im Sinne von engagiert und aufrichtig) gegeben werden. Der Nudity Rider, der hier zum Einsatz kommt ermöglicht es Darstellern zudem, bis zum Dreh der Szene ihren Consent zu widerrufen. Nachdem die Szene gedreht wurde gilt der Consent als gegeben.

  • Generell gilt:

    Weder im E-Casting, noch in einer Live-Castingrunde sollte Nacktheit oder die Darstellung intimer Handlungen stattfinden.

    Falls Nacktheit, bzw. die Körperform für eine Rolle essentiell sein sollte, so sollte das Casting in Unterwäsche oder Badekleidung, mindestens jedoch in “Modesty Garments (hautfarbenen Intimbedeckungen für Unter- und Oberkörper) stattfinden.

    In diesem Fall muss dem Schauspieler das komplette Drehbuch vorliegen. Ihm muss kommuniziert werden wer beim Casting anwesend ist und muss die Möglichkeit haben, eine Begleitperson mitzubringen. Das Material muss nach Besetzung der Rolle vernichtet werden.

    Die ausführlichen Guidelines für Castings finden Sie auf der Webseite des internationalen Castingverbandes ICDN. Der deutsche Verband BVC arbeitet mit der deutschen Version dieser Guidelines, welche Sie hier herunterladen können:

    https://theicdn.com/wp-content/uploads/2021/08/Intimacy-Guidelines-German-Intim-Praxisleitfaden-1.pdf

  • Ein Intimacy Coordinator ist eine speziell ausgebildete Fachkraft für die professionelle Planung, Choreografie und Umsetzung intimer Szenen.

    Sie ist eine Kreativposition und Head of Department, ähnlich dem Stunt Coordinator im Department Stunt. So wie ein Stunt Coordinator auch sind Intimacy Coordinators insgesamt verantwortlich für alle Produktionsschritte bei intimen Szenen. Dabei werden zum einen die kreativen Aspekte der intimen Szene umgesetzt und zum anderen die speziellen Aspekte des Arbeitsschutzes, damit Darsteller in der Arbeit mit intimen Inhalten privat geschützt bleiben. Intimacy Coordinators sorgen für klare Kommunikation über die zu drehenden intimen Inhalte mit allen beteiligten Gewerken, choreografieren die intimen Inhalte gemäß der kreativen Vision der Regie und unter Wahrung der invidivuellen Grenzen der Spielenden und sicher während der Proben und während des Drehs der intimen Inhalte Consent laufend ab.

    Ein qualifizierter Intimacy Coordinator sollte ausgebildet und erfahren in Bewegungschoreografie sein und spezielle Kenntnisse in der filmischen Darstellung von Intimität und Sexualität haben. Es ist keine Tätigkeit für Berufsanfänger oder Quereinsteiger aus anderen Branchen, sondern eine Tätigkeit für erfahrene Branchenpraktiker mit fundiertem Praxis-Wissen in Schauspiel, Bewegungsarbeit, Consentarbeit, und filmischem Storytelling.

    • ein:e “Intimacy Coach” -

      die korrekte Berufsbezeichnung ist “Intimacy Coordinator” oder die deutsche Übersetzung “Intimitätskoordinator:in”. Ein “Intimacy Coach” ist ein:e Psycholog:in, welche:r im Bereich der Paar- und Sexualtherapie tätig ist und Paare zu Fragen und Problemen in ihrer Partnerschaft berät.

    • ein Crew-Mitglied, welches bereits eine Position am Set bekleidet, z.B. die 1. Regieassistenz, Casting, oder der Schauspiel-Coach.

      Intimacy Coordination ist eine volle Stelle, die von einer ausgebildeten Fachkraft ausgefüllt werden muss. Der/die Intimacy Coordinator ist zudem eine “neutrale Drittpartei” und keiner Machtposition wie z.B. der Regie unterstellt. Eine weitere Crew-Position wäre ein Interessenkonflikt.

    • Der/die Metoo-Beauftragte

    • die Zensur

    • eine psychologische Beratung

      • Intimacy Coordinators sind in mentaler Erster Hilfe ausgebildet und können in mentalen Belastungssituationen erste Hilfe leisten. Aber sie sind keine Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen oder Trauma-Therapeut:innen.

      • Bei mental stark belastenden Inhalten empfehle ich der Produktion, für Cast und Crew zusätzlich eine psychologische Beratung zu engagieren, welche das Team therapeutisch begleiten kann.

    • Die Person, die dafür sorgt, daß sich am Set alle “wohlfühlen”.

      • “wohlfühlen” ist im Kontext intimer Szenen das falsche Wort. Intime Szenen sind immer Risiko-Szenen und mit einer gewissen Anspannung verbunden. Was die Intimitätskoordination tut ist die Arbeitsprozesse zu professionalisieren und dadurch Klarheit, Transparenz und Sicherheit zu schaffen. Intime Szenen brauchen keinen Wohlfühlfaktor - sie brauchen Klarheit, Choreografie und professionelle Abläufe.

  • Qualifizierte Intimacy Coordinators finden Sie am besten über die Berufsverbänden für Intimacy Coordination . In Deutschland und Europa sind dies:

    Berufsverband Intimitätskoordination und Kampfchoreografie (BIK)

    Intimacy Practitioners Guild (IPG)

    Intimacy Professionals Association (IPA)

    Gute Intimacy Coordinators werden durch Set-Erfahrung gemacht. Falls Sie nicht sicher sind, ob die Person qualifiziert sind, lassen Sie sich den Lebenslauf zuschicken und schauen Sie sich das Branchenprofil auf Crew United an.

    Führen Sie immer ein Erstgespräch mit dem Intimacy Coordinator und lassen Sie sich erklären, wo und bei wem die Person gelernt hat und wie sie arbeitet.

    Achtung: der Besuch eines Online-Seminars zum Thema “Intimacy Coordination” ist keine Befähigung, als Intimacy Coordinator zu arbeiten. Dies ist kein Beruf, den man an einem Wochenende lernt, und wir können im Sinnes des Arbeitsschutzes nur davon abraten, jemanden als “Intimacy Coordinator” zu engagieren, der nicht ausgebildet wurde.

  • In der Vorproduktion, und am besten so früh wie möglich.

    Je früher ein Intimacy Coordinator als Head of Department in die Planungsphase eingebunden wird, desto optimaler kann die intime Szene vorbereitet und umgesetzt werden.

    Der Hauptteil der Intimacy Coordination findet in Form der Vorbereitungsarbeit in der Vorproduktion statt.

    Der Mindestvorlauf für das Department Intimacy sollte, je nach Komplexität und Umfang der intimen Szene, ca. 2 Wochen betragen.

    Wichtig ist hier auch, den Intimacy Coordinator in den Planungsprozess zu integrieren, d.h.: Aufnahme in den Produktionsverteiler, Teilnahme an wichtigen Produktions-Meetings, Leseproben - sowie die rechtzeitige Diskontierung von Probenzeit vor dem Dreh.

    Oft erreichen mich “Notrufe” wenige Tage bis 1 Woche vor dem Drehtag einer intimen Szene. Vielleicht gibt es ein Problem, oder ein Schauspieler wünscht sich, daß jemand dabei ist. Diese Fälle sind kaum zu lösen, denn die Vorbereitungszeit ist hier nicht mehr vorhanden.

    Intimität muss früh und rechtzeitig mitgedacht werden - genau so wie ein Stunt.

  • Nein. Intimitätskoordination gab es lange vor #metoo. Sie hat sich aus der Tradition der Stunt- und Kampfchoreografie, sowie der Schauspielarbeit und Consent-basierter Performance entwickelt.

    Bereits Anfang der 2000er Jahre entwickelten amerikanische Stuntleute erste Methoden für die Arbeit mit Intimität - ähnlich den Sicherheitsprotokollen die aus der Stuntkoordination bereits bekannt waren.

    Die “erste” Intimacy Coordinator war in diesem Sinne TONIA SINA, welche 2006 ihre Masterarbeit über “Intimacy Direction” und Choreography schrieb und damit auch den Begriff prägte.

    Weitere Pionierinnen und Pioniere auf dem Gebiet sind:

    Alicia Rodis, Amanda Blumenthal, Siobhan Richardson, Adam Noble, Ita o’Brien, Lizzy Talbot, Enric Ortuno, Yarit Dor.

    2019 brachten Ita O’Briens erste Auszubildende die Berufspraxis in ihre jeweiligen Länder: Deutschland (Julia Effertz), Schweden (Malin Ericsson), Finnland (Pia Rickman), Südafrika (Kate Lush).

  • “Wohlfühlen” ist nicht das richtige Wort bei der Arbeit mit intimen Szenen. “Professionell”, “klar” und “sicher” sind die Worte, die wir in der Arbeit mit Intimität brauchen und die wir mit unserer Arbeit einziehen.

    Das Feedback welches ich nach einem Drehtag dann oft höre ist, daß sich die Darsteller aufgrund der so klaren, professionellen Arbeit mit mir, bei der unter Wahrung der privaten Grenzen eine tolle Szene entstanden ist, sicher gefühlt haben - und insofern “wohl”.

    Allerdings werden intime Szenen niemals “Wohlfühlszenen” sein - das ist schlicht nicht möglich und das müssen sie auch nicht!

    Sie müssen Szenen sein, die professionell geplant wurden, die choreografisch gearbeitet und geprepped sind, und bei denen die Darsteller klar und im Rahmen ihrer individuellen Grenzen und im Sinne der Geschichte und der Figur arbeiten.

    Auch das Drehteam setzt intime Szenen nicht mal eben so um. Intime Szenen werden immer Risiko-Szenen bleiben, sie können auch die Crew potentiell belasten, das liegt in der Natur der Sache. Deshalb ist es unabdingbar, die Arbeit mit intimen Szenen, so wie die Arbeit mit Gewalt-Szenen, zu professionalisieren

    Diese Klarheit und Professionalität durch Intimacy Coordination schafft etwas, was manche mit wohlfühlen beschreiben würden.

    Ein Intimacy Coordinator kann die Arbeit mit Intimität vor der Kamera oder auf der Bühne professionalisieren, normalisieren und sicherer machen. Komplette Sicherheit können wir nicht garantieren. Dies kann auch kein Stunt Coordinator, wenn Gewalt inszeniert werden.

    Damit wir diese Professionalisierung und Klarheit in den Arbeitsprozess einziehen können ist es wichtig, daß wir rechtzeitig und komplett in den Arbeitsprozess von Produktion und Regie einbezogen werden.